Durchbruch zur Selbstverwirklichung

Von Daniel C. Jordan

Dr. Daniel C. Jordan ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität von Massachusetts, Amherst. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er an einer Reihe von Programmen für die Entwicklung der rassischen Minderheiten in den USA aktiv beteiligt. Sein Aufsatz „Becoming Your True Seif" in „World Order, a Bahá’í Magazine", Wilmette/111., USA, Herbst 1968, erschien in deutscher Übersetzung in BAHÁ’Í BRIEFE 37, 1969.

 

Vor über hundert Jahren trat Bahá’u’lláh mit dem herausfordernden Anspruch auf Seine Offenbarung sei das wichtigste Werkzeug für die Vereinigung der Menschheit und bewirke, daß schließlich eine Weltordnung und der Weltfriede begründet werden.

Nur wenige werden bestreiten, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen und die Menschen, die sie sich schaffen, eine radikale Umwandlung erfahren müssen, wenn wir vom gegenwärtigen Zustand weltweiter Unruhen und Streitigkeiten zum Weltfrieden und zur Welteinheit kommen wollen. Jeder, der sich den Weltfrieden wahrhaft angelegen sein läßt, muß sich deshalb um die Frage kümmern, wie diese Umwandlung herbeigeführt werden kann. Nachdem sich der Bahá’í-Glaube in kurzer Zeit über die ganze Welt verbreitet und gezeigt hat, daß er das Leben vieler Menschen zu verwandeln vermag, herrscht großes Interesse an der Natur und am Ablauf des Prozesses, durch welchen dieser Glaube seinen Anhängern den Durchbruch zur Selbstverwirklichung ermöglicht.
Zunächst sollten wir uns vernünftigerweise eingestehen, daß wir unmöglich alle dieser umfassenden Offenbarung innewohnenden Kräfte, welche den Verwandlungsprozeß antreiben und steuern, entdecken oder gar verstehen können; aber in den Bahá’í-Schriften findet sich vieles, was Licht auf den Weg dieser Wandlung durch Erschließung menschlicher Anlagen wirft.

Das Interesse an der Frage, wie menschliche Anlagen erschlossen werden können, ist eher persönlicher als akademischer Art; Millionen allüberall sehnen sich danach, wie Bahá’u’lláh es ausdrückt, aus einem Zustand der Gefangenschaft und Erniedrigung zu umfassender Vornehmheit durchzubrechen.

Natürlich sind Bahá’u’lláhs Lehren über den Verwandlungsprozeß intellektuell sehr anregend; aber ihre Kenntnis hat einen durchaus praktischen Zweck. Vollbewußtes Erkennen der Phasen dieses Prozesses hilft uns, das Erreichte zu festigen, und macht uns fähig, weitere Wachstumschancen auszumachen und wahrzunehmen, oft durch schmerzliche Erfahrungen, die zunächst unnütz oder grausam erscheinen mögen.

Die persönliche Wandlung ist ein Hauptgrund dafür, daß sich Menschen zum Glauben hingezogen fühlen, sich von seiner Wahrheit zunehmend überzeugen und schließlich Bahá’í werden. Das ist naheliegend. Menschen, die mit diesem Glauben in Berührung kommen und sich durch ihn verwandelt fühlen, machen eine Erfahrung, die für sich selbst spricht. Keiner kann ihnen diese Erfahrung nehmen, kein verständliches Argument kann sie zur Bedeutungslosigkeit oder Unwirklichkeit herabmindern. Das Bewußtsein, sich selbst zum Besten seiner eigenen Anlagen zu entfalten, stellt die höchste Freude dar. Es fördert den Sinn für den eigenen Wert, beseitigt das Bedürfnis nach Aggressionen und bewirkt ein mitfühlendes Gesellschaftsbewußtsein — alles Voraussetzungen für die Welteinheit und den Frieden.

DAS WESEN MENSCHLICHER ANLAGEN

Was aber ist das „Beste" der eigenen Anlagen? Bahá’u’lláh lehrt, der höchste Ausdruck des Selbstes sei Dienstbarkeit. Das Maß, in dem diese höchste Stufe der Dienstbarkeit erreicht werden kann, entspricht dem Maß, in dem die grundlegenden Kräfte oder Möglichkeiten des menschlichen Wesens erschlossen werden können. Der Prozeß der Selbstverwirklichung ist folglich gleichbedeutend mit einem Prozeß der Entfaltung grundlegender Möglichkeiten und ihrer Bereitstellung für den Dienst an der Menschheit. Die alltäglichen Entscheidungen und Handlungen, die diese Entfaltung widerspiegeln, sind dem Wesen nach religiös; Bahá’u’lláh setzt Arbeit jeder Art, die im Geist des Dienens — im Geist jener höchsten Stufe des Menschentums — verrichtet wird, dem Gottesdienst gleich. Ein Mensch, der die religiöse Natur dieses Entfaltungsprozesses zu sehen beginnt, wird nicht nur in der Arbeit und im Gottesdienst eine neue Tiefendimension entdecken, sondern auch die Religion in einem neuen Licht sehen. Nach und nach wird er das eine verstehen: Wenn die Kraft, die den Menschen zu ständigem Wachstum befähigt, aus einer Religion verschwunden ist, wird es Zeit, daß diese Religion erneuert wird; denn ohne jene Kraft ist eine Religion wenig mehr als leeres Ritual, inhaltloses Dogma und gesellschaftliche Konvention, die die Ausprägung menschlichen Geistes blockieren und den gesellschaftlichen Fortschritt aufhalten.

Der Dienst an der Menschheit erhält seinen Wert durch die Tiefe und den Charakter der Fähigkeiten des Menschen, der ihn erbringt. Welches sind die Fähigkeiten? Bahá’u’lláh bestimmt sie in Seiner Erklärung über die grundlegende Absicht bei der Erschaffung des Menschen: Gott zu erkennen und zu lieben. Klar sind hier die beiden grundlegenden Kräfte oder Fähigkeiten des Erkennens und des Liebens bezeichnet und mit dem Zweck und Sinn unseres Daseins verbunden. Folglich bedeutet für einen Bahá’í Selbstverwirklichung die Entfaltung der eigenen Erkenntnis- und Liebesfähigkeit im Dienst an der Menschheit.

Dieses Sinnverständnis verleiht dem Begriff der Geistigkeit Substanz: Ein geistiger Mensch ist jemand, der Gott erkennt und liebt und sich kämpferisch dafür einsetzt, diese Erkenntnis- und Liebesfähigkeit im Dienst an der Menschheit zu entfalten. Definitionsgemäß ist es demnach ein Zeichen geistiger Unreife oder geistiger Krankheit, wenn jemand sich einem Eindruck verschließt oder sich weigert, neue Beweismittel zu prüfen, wenn jemand seine eigene Erkenntnisfähigkeit blockiert oder auf andere in liebloser Weise reagiert.

Alle anderen Tugenden können als Ausdruck verschiedener Kombinationen dieser Grundfähigkeiten des Liebens und Erkennens, auf mannigfache Lebenslagen angewandt, verstanden werden. Die Liebesfähigkeit umfaßt nicht nur die Fähigkeit zu lieben, sondern auch die Fähigkeit, geliebt zu werden — Liebe anzuziehen. Es gibt keine Liebenden ohne Geliebte. Wenn wir nicht wissen, wie wir geliebt werden können, oder Liebe nicht annehmen, frustrieren wir andere, die um die Entfaltung ihrer eigenen Liebesfähigkeit ringen. Die Nichtannahme der Liebe eines anderen wird sehr häufig als Zurückweisung empfunden; sie richtet unermeßlichen Schaden an, besonders bei kleinen Kindern.

Zur Erkenntnisfähigkeit gehört auch das Wissen darum, wie man lernt und wie man lehrt. Lehren und Lernen sind reziproke Gesichtspunkte der Erkenntnisfähigkeit. Ein Lehrer ist kein guter Lehrer, wenn er nicht von seinen Schülern lernen kann, und ein guter Schüler wird es nicht versäumen, seinem Lehrer auf solche Weise Fragen zu stellen, daß sie beide lernen.

Eine Fähigkeit unterstützt und erleichtert die Entwicklung der anderen. Um zum Beispiel Erkenntnis zu gewinnen, müssen wir das Lernen lieben; wenn wir lieben sollen, müssen wir nicht nur erkennen, wie man liebt, sondern auch, wie man geliebt wird.

Die beiden Grundfähigkeiten des Erkennens und Liebens sind wesenhafte menschliche Anlagen. Vom Bahá’í-Standpunkt aus bedeutet wahre Erziehung ein Herausziehen, ein Entwickeln von Anlagen im weitest möglichen Maße. Unglückseligerweise befaßt sich die heutige Erziehung weit mehr mit der Darreichung von Information als mit dem Herausziehen von Anlagen. Schulen sind deshalb in erster Linie Anstalten, in denen Tatsachen und Gedanken vom Lehrer verabreicht und vom Schüler gespeichert werden. Folgerichtig bestätigen Titel und Diplome lediglich von Amts wegen, daß bestimmte Arten und Mengen von Information verabreicht worden sind und der Kandidat in verschiedenen Etappen seiner formalen Erziehung aufzeigen konnte, daß er diese Information gut genug gespeichert hat, um sie während einer Prüfung wiederzufinden und niederzuschreiben. Solche Titel und Diplome sagen nichts über die Fähigkeit des Studenten zu lieben oder zu empfinden; sie sagen deshalb kaum etwas über den Charakter — ein Wort, das die Geschicklichkeit eines Menschen bezeichnet, sein Wissen konstruktiv anzuwenden und seiner Liebe zur Menschheit Ausdruck zu verleihen.

Des weiteren hat es sich erwiesen, daß Lernprobleme auftreten und die Erkenntnisfähigkeit geschwächt wird, wenn die Liebesfähigkeit auf irgendeine Weise blockiert ist. Ein Schulsystem, das auf engstirniger „Informationsverabreichung" aufgebaut ist, kann den Bedürfnissen der Gesellschaft niemals angemessen dienen. Wahre Erziehung muß den Fortschritt zur höchsten Stufe — der Dienstbarkeit — fördern und sich deshalb mit dem ganzen Menschen und seinem Charakter, nicht nur einem kleinen Ausschnitt, beschäftigen.

DER GLAUBE ALS ERSCHLIESSUNG MENSCHLICHER ANLAGEN

Das Wesen menschlicher Anlagen zu beschreiben und diese Anlagen zu erschließen — das sind zwei recht verschiedene Dinge. Der Bahá’í-Glaube tut beides. Das Wesen menschlicher Fähigkeiten wurde bereits kurz besprochen. Wir wollen nun die Wege erkunden, auf denen der Glaube durch die Erschließung dieser Anlagen den Verwandlungsprozeß einleitet und in Gang hält.

Der Urquell für die Kraft zur Verwandlung sind die Schriften Bahá’u’lláhs. Sich Seinen Schriften zu öffnen, fördert die Entwicklung des Glaubens, und Glaube ist die erste Vorbedingung der Verwandlung. Im Grunde ist Glaube eine Haltung gegenüber dem Unbekannten oder Unerkennbaren, die es uns mit der Zeit ermöglicht, uns diesem Unbekannten in solcher Weise zu nähern, daß ein wenig mehr davon bekannt wird. Dergestalt ist Glaube eine besondere Form des Ineinandergreifens der beiden Grundfähigkeiten zu erkennen und zu lieben. Dem Wesen nach bedeutet Glaube eine Liebesbeziehung zum Unbekannten oder eine Fähigkeit, sich ihm zu nähern. Da Gott, wie Bahá’u’lláh bestätigt, unerkennbar ist, bedarf es des Glaubens, damit man von Ihm angezogen wird und zu Ihm in Beziehung tritt.

Wir alle haben eine Art kosmischen Hungers, ein Bedürfnis, zu allen Dingen einschließlich der Unendlichkeit des Alls in Beziehung zu treten. Das ist ein natürliches Nebenprodukt des Bewußtseins. Da wir uns selbst als abgesondert von allen übrigen Dingen im Weltall erleben, fühlen wir uns gezwungen herauszufinden, wie wir zu allen anderen Dingen in Beziehung stehen; und dies schließt die Beziehung zu den unbekannten oder unerkennbaren Dingen, die gleichfalls im All existieren, mit ein. Das letzte unerkennbare Geheimnis des Weltalls trägt viele Namen: Allah, Jehova, Gott, Höchstes Wesen. Weil nun der Mensch die Fähigkeit des Glaubens — eine besondere Haltung gegenüber dem Unbekannten — besitzt, hat er die ganze Weltgeschichte hindurch auf die Stifter der großen Weltreligionen angesprochen, die zu ihm kamen, um die Eigenschaften jenes unerkennbaren Geheimnisses — Gottes — zu offenbaren und unseren kosmischen Hunger zu stillen. Somit ist Glaube ein wesenhafter Ausdruck unseres Lebenszwecks, Gott zu erkennen und zu lieben.

Wenn unsere Grundfähigkeiten das Erkennen und das Lieben sind und wenn wir als Ebenbilder Gottes erschaffen sind, müssen Erkenntnis und Liebe zu den Eigenschaften Gottes gehören. In den „Verborgenen Worten" bestätigt uns Bahá’u’lláh, daß dies so ist. Er spricht: „O Sohn des Menschen! Verhüllt in Meinem unausdenkbaren Wesen und in der Ewigkeit Meines Seins erkannte Ich Meine Liebe zu dir; darum erschuf Ich dich, prägte dir Mein Ebenbild ein und offenbarte dir Meine Schönheit" (arab. 3).

Wenn weiterhin Gott unerkenbar ist und wir nach Seinem Ebenbild erschaffen sind, können wir erwarten, daß auch in uns selbst etwas Unbekanntes ist. Dieses Unbekannte sind die noch nicht zum Ausdruck gelangten Anlagen in uns — die verborgenen Fähigkeiten zu erkennen und zu lieben. Auf dramatische Weise lenkt uns Bahá’u’lláh in die Weite dieses Unbekannten in uns selbst, wenn Er in den „Sieben Tälern" einen Ausspruch 'Alis, des Schwiegersohns Muhammads, anführt: „Wähnst du dich nur eine schwächliche Form, wo in dir doch das Weltall im Kleinen verborgen ruht?" (1971, S. 51). In einem anderen Vers sagt Bahá’u’lláh selbst: „Ihr seid Meine Schatzkammern, denn in euch legte Ich die Perlen Meiner Geheimnisse und die Edelsteine Meiner Erkenntnis" (Verborgene Worte, arab. 69).

Keiner von uns kennt seine Liebesfähigkeit oder weiß, wieviel er lernen kann. Wie wir Glauben haben müssen, ehe wir etwas von den Eigenschaften Gottes erkennen können, so müssen wir Glauben haben, bevor wir etwas über uns selbst erfahren. Wir müssen das Unbekannte in uns selbst lieben — zu ihm hingezogen sein, eine besondere Haltung zu ihm einnehmen; nur so kann es sich erschließen. Wenn wir zu dem Unbekannten in uns selbst ausreichend in Beziehung treten, können wir auch zu dem Unbekannten in anderen Menschen Beziehungen aufnehmen. Mit anderen Worten, wir müssen andere Menschen nicht nur in der Form annehmen, wie sie gegenwärtig sind; wir müssen in ihnen zugleich das sehen, was sie werden können, sonst behindern wir sie in ihrem Verwandlungsprozeß und halten sie von ihrer Selbstverwirklichung ab.

Dies ist der Grund, warum ein Mensch alle seine Beziehungen zu anderen verwirrt, unbefriedigend, ja schmerzhaft empfindet, wenn er sich selbst aufgegeben, seine Selbstverwirklichung abgebrochen und darum seine eigenen Anlagen verraten hat. Einen anderen Menschen so anzunehmen, wie er gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist, und die Beziehungen darauf aufzubauen, verhindert die Entfaltung von mehr als einem oberflächlichen Verhältnis. Um Beziehungen von tiefem innerem Gehalt zu anderen Menschen zu schaffen, müssen wir zugleich zu den unbekannten Möglichkeiten in ihnen ja sagen; denn dieses Jasagen ist eine wichtige Quelle ihres Mutes zur Selbstverwirklichung. Ein wenig persönlicher ausgedrückt: Wenn Sie die unbekannten Möglichkeiten in sich selbst nicht anehmen, werden Sie nie mehr als eine oberflächliche Beziehung zu anderen herstellen können; Sie werden weder anderen dabei helfen können, ihre Anlagen zu entwickeln, noch werden Sie dies bei sich selbst vermögen.

Da die Anlagen eines Menschen ein überaus wichtiger Teil seiner Wirklichkeit sind — tatsächlich sind sie die Grundlage seines künftigen Wachstums — müssen diese Anlagen von anderen angenommen werden und in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielen, bevor sich ein Mensch voll angenommen fühlen kann. Volle Annahme durch andere schafft eine besondere Art von Vertrauen, das schwerlich gebrochen werden kann. Es ist die wichtigste Ursache für einen wohlwollenden Zwang zur Selbstverwirklichung und eines der bedeutsamsten Zeichen wirklicher Liebe und Freundschaft. Wenn dieser liebevolle Zwang wechselseitig zwischen zwei Menschen platzgreift, wird er jede Beziehung vergeistigen; besondere Bedeutung hat er jedoch in der Ehe. Er bildet die geistige Grundlage der Bahá’í-Ehe.

Daß Wechselseitigkeit bei dieser Art von Beziehung notwendig ist, bringt Bahá’u’lláh in den Verborgenen Worten klar zum Ausdruck: „O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen. Erkenne dies, o Diener" (arab. 5). In diesem Vers befiehlt uns Gott durch Seine Manifestation, daß wir Ihn lieben und Ihn trotz der Tatsache annehmen, daß Er unerkennbar ist. Zum Unerkennbaren hingezogen zu sein, ist das Wesen des Glaubens. Wenn kein Glaube, kein Hingezogensein zu jenem ersten Geheimnis, vorhanden ist, werden wir dem Geheimnis in unserem eigenen Selbst entfremdet und von der Kraft des Wachstums und der Entwicklung abgeschnitten. Das oben angeführte Zitat beginnt mit der Anrede: „O Sohn des Seins!" und endet mit dem Befehl: „Erkenne dies, o Diener". So werden in diesem ganz knappen Vers die beiden Grundfähigkeiten des Liebens und Erkennens wieder im Zusammenhang mit dem Sein und dem Dienen hervorgehoben. Der Prozeß des Seins, das Werden, wird mit der höchsten Stufe der Dienstbarkeit verbunden.

DIE ANGST VOR DEM UNBEKANNTEN

Einem Unbekannten ins Auge zu sehen, ist nicht leicht. Der Ausblick ist immer mit Angst verbunden, besonders wenn wir dem Unbekannten in uns selbst gegenübertreten. Ein Unbekanntes außerhalb von uns selbst wird fast immer als eine mögliche Bedrohung unserer Sicherheit wahrgenommen, weil es eine Frage aufwirft, die etwas Unbekanntes in uns selbst darstellt: Haben wir das, was wir brauchen, um erfolgreich mit diesem äußeren Unbekannten umgehen zu können?

Die Angst hat alle Kennzeichen der Furcht, nur kein klar umgrenztes Objekt. Furchtreaktionen wie Angstreaktionen sind charakterisiert durch eine rasche energetische Aufladung des Systems, die es auf eine mögliche Notlage vorbereitet. Die Furchtreaktion läßt sich leichter kontrollieren, weil das drohende Objekt identifiziert und beseitigt oder umgangen werden kann. Im Falle der Angst jedoch geht das System in Alarmbereitschaft über, wobei nicht klar wird, was die Notlage ausmacht. Ohne ein Objekt ist es schwierig zu erkennen, welche Maßnahmen getroffen werden sollen; auch ist das System nie ganz sicher, wann es die Notlage als vorübergegangen bezeichnen kann. Angst kann folglich als Energieaufwand ohne Zielsetzung angesehen werden.

Der einzige erfolgversprechende Weg, mit der Angst umzugehen, ist demnach, diese Energie als ein Geschenk aufzufassen und ein konkretes Ziel für sie zu finden, das dem allgemeineren Ziel, der tieferen Sinngebung dient: unsere Fähigkeiten des Liebens und des Erkennens zu entfalten. In arteigenen Begriffen festzulegen, was dieses Ziel genau sein soll, ist vielleicht der umfassendste schöpferische Akt des Menschen. Er bringt es mit sich, daß man ein Risiko trägt, den Schritt hinaus ins Unbekannte wagt, die Last des Zweifels auf die Schulter nimmt und doch immer in der Hoffnung lebt, irgendeine neue Fähigkeit oder eine neue Grenze (die ebenfalls Teil der eigenen Wirklichkeit ist) zu entdecken. Zu jenem Unbekannten in uns selbst hingezogen sein, ist Glaube; die Energie der Angst dazu verwenden zu können, ein Ziel abzustecken, und Schritte auf dieses Ziel hin zu unternehmen, ist Mut. So sind Glaube, Zweifel, Angst und Mut allesamt grundlegende Gesichtspunkte des Verwandlungsprozesses, der Erschließung von Anlagen. Wenn keine Unbekannten da wären, gäbe es keinen Zweifel und keine Angst; ohne Zweifel und Angst jedoch gäbe es kein Bedürfnis nach Glauben und Mut.

DER GEISTIGE MUTTERBODEN DER VERWANDLUNG

Die Macht des Bahá’í-Glaubens, Menschen durch die Erschließung ihrer Anlagen zu verwandeln, rührt unmittelbar aus der Tatsache, daß er Zweifel und Angst in beherrschbaren Grenzen hält und einen Ansporn, eine Motivation dafür schafft, durch Glauben und Mut konstruktiv mit dem Zweifel und der Angst umzugehen. Bahá’u’lláh selbst wies darauf hin, daß die Hauptquelle jener Kraft zur Verwandlung die Annahme Seines Wortes, des Wortes Gottes, ist. Man spricht von Seinen Schriften oft als dem „schöpferischen Wort", aus keinem anderen Grund als dem, daß sich Menschen neu erschaffen fühlten, wenn sie sich mehr und mehr diesem Wort öffneten. Deutlich versichert Bahá’u’lláh, man müsse, wenn man verwandelt werden wolle, sich „in das Weltmeer Seiner Worte" versenken.

Die Versenkung in dieses Weltmeer leitet den Verwandlungsprozeß dadurch ein, daß sie die Natur des Menschen und den Sinn unserer Erschaffung in uns bewußt macht. Niemand kann Bahá’u’lláh lesen, ohne zu spüren, wie seine eigenen Fähigkeiten zu lieben und zu erkennen geweckt und entfaltet werden. In dem Maße, wie wir seine Schriften fortgesetzt durchforschen, sehen wir uns selbst und die Verhältnisse mit anderen Augen. In dem Maße, wie wir uns selbst und die Verhältnisse anders sehen, beginnen wir, andere Gedanken und Gefühle über die Dinge um uns her zu haben. Wenn wir anders denken und fühlen, beginnen wir, uns anders zu verhalten. Ein anderes Verhalten ist der greifbare Ausdruck dafür, daß ein Mensch auf dem Weg zum Abenteuer seiner Selbstverwirklichung ist.

Die Schriften Bahá’u’lláhs dienen demnach als eine Art Interventionsstreitmacht, die uns von all den Bindungen und Befürchtungen befreit, welche uns gefangenhalten und uns hindern, den gefährlichen, aber schöpferischen Schritt in das Unbekannte zu wagen. Wir wissen, daß Menschen oft durch starke Erlebnisse dieser oder jener Art verändert werden. Die Versenkung in das Weltmeer der Worte Bahá’u’lláhs ist kein gewöhnliches Lesen; es ist ein Erlebnis für den ganzen Menschen, das stark genug werden kann, um ihn von den Bindungen an den Status quo zu befreien und ihn zum Streben nach seiner Bestimmung zu lenken. Wenn wir uns von der lähmenden Verhaftung an das, was andere Leute von uns denken, frei gemacht haben, laufen wir weniger Gefahr, von anderen manipuliert und gefangen gehalten zu werden. Stattdessen erschließen wir eine Quelle eigenständiger Motivation.

Die Schriften Bahá’u’lláhs führen auch die allgemeine Angst und die Zweifel unserer Gegenwart auf ein beherrschbares Maß zurück, indem sie der Menschheitsgeschichte und dem gegenwärtigen Krisenzustand in der Welt einen Sinn beimessen. Das bedeutet, daß wir uns nicht länger vormachen müssen, die Krisen seien nicht vorhanden, und uns nicht länger dagegen sträuben müssen, ihnen ins Auge zu sehen. Das Verständnis der uns umgebenden Probleme, und sei es auch nur in groben Zügen, vermindert nicht nur die Angst, sondern vermittelt uns auch Mut.

Eine weitere Quelle des Mutes ist Bahá’u’lláhs stets allgemein gehaltener Hinweis darauf, welche Zielsetzungen rechtens sind und mit dem Sinn unserer Erschaffung in Einklang stehen. Dies gibt uns eine gewisse Anleitung für den schöpferischen Schritt, ein Ziel zu umreißen, das wir dadurch erreichen können, daß wir die Energie der Angst nutzbar machen. Wir haben hier eine freie Wahl. Wir können entweder jenen schöpferischen Schritt vollziehen, ein Ziel umreißen und dadurch den Verwandlungsprozeß erleichtern, oder wir können uns mehr oder weniger bewußt weigern, dies zu tun, und hoffen, daß die Angst schließlich von allein vergeht. Offensichtlich sind Persönlichkeiten, die eine starke Führung hinsichtlich der Art der Ziele besitzen, besonders gut in der Lage, bewußt über praktische Ziele zu entscheiden. So lange eine solche Zielentscheidung fehlt, drückt sich die Energie der Angst leicht in aggressiven und feindseligen Akten gegen andere Menschen aus; deren Reaktionen auf den Angriff behindert oft das weitere Wachstum und die Entwicklung noch mehr, nicht nur bei ihnen selbst, sondern erst recht bei den Menschen, auf die sie reagieren.

Die Schriften Bahá’u’lláhs regen also unsere Grundfähigkeiten zu erkennen und zu lieben auf die einzigartige Weise an, die wir Glauben und Mut nennen können. Glauben und Mut bieten ihrerseits die Gewähr für das ständige Wachstum und die Weiterentwicklung jener beiden Grundfähigkeiten. Mit anderen Worten, Erkenntnis und Liebe, in richtiger Weise durch Glauben und Mut angewandt, erhöhen die Erkenntnis- und Liebesfähigkeit und erschließen menschliche Anlagen.

DER GESELLSCHAFTLICHE BODEN FÜR DIE VERWANDLUNG

Aber dies ist nicht das ganze Bild. Bahá’u’lláh hat Vorkehrungen für die Bildung von Gemeinschaften getroffen, deren Einrichtungen die Verwandlung der Menschheit sicherstellen und vorantreiben. Die Bahá’í-Gemeinde wird so zum gesellschaftlichen Mutterboden des Verwandlungsprozesses.

Da Bahá’u’lláh den Grundsatz der Einheit der Menschheit bekräftigt, sind alle Bahá’í-Gemeinden aus Menschen verschiedener sprachlicher, rassischer, nationaler und religiöser Herkunft zusammengesetzt. Diese Mannigfaltigkeit stellt jedes Mitglied vor viele Unbekannte, oder weniger wohlklingend ausgedrückt: Die Bahá’í-Gemeinde setzt sich aus Menschen zusammen, von denen man sich viele normalerweise nicht als Freunde aussuchen und zu denen man sich ansonsten nicht sonderlich hingezogen fühlen würde. Bekanntlich neigen wir dazu, solche Menschen als Freunde zu gewinnen, die in der selben Weise wie wir denken, die selben Ansichten wir wir über bestimmte Dinge haben, die selben Geschmacksrichtungen und Liebhabereien verfolgen. Innerhalb einer dermaßen gleichartigen Gruppe kann die persönliche Verwandlung leicht zum Stillstand kommen, denn es wird ein festes Repertoire von Antworten auf alle Fragen entwickelt, und es besteht kein Anreiz, neue Antworten zu finden. Dies ist der Grund, warum Mannigfaltigkeit eines der kostbarsten Attribute der Bahá’í-Gemeinschaft ist.

Wenn jemand einer Bahá’í-Gemeinde beitritt, kommt er in eine Familie von völlig verschiedenartigen Menschen, mit denen er zusammenarbeiten und sinnvolle Beziehungen aufbauen muß. Das erste, was er dabei herausfindet, ist der Umstand, daß sein altes Repertoire von Anworten nicht länger ausreicht. Derart viele verschiedene Menschen stellen eine hohe Zahl von Unbekannten dar, und der Versuch, mit diesem Unbekannten in Beziehung zu treten, schafft Energie (Angst), die ihrerseits jenen wechselseitigen Prozeß des Erkennens und Liebens durch Glauben und Mut in Gang setzt. Wenn wir ein angemessenes Ziel setzen, das die Energie dieser Angst konstruktiv nutzt, werden wir dadurch ein neues Repertoire von Antworten auf Lebensfragen hervorrufen. Jede neue Antwort ist ein Stück offenbar gewordener, bisher verborgener Fähigkeit, eine Erschließung menschlicher Wirkkräfte. Eine andere Möglichkeit, dies auszudrücken, ist die Feststellung, daß die Bahá’í-Gemeinschaft mehr Gelegenheiten der Erkenntnis und der Liebe unter wachstumsfördernden Bedingungen bietet, als irgendwo sonst anzutreffen sind.

Der typische Bahá i bewegt sich in einem geistigen Entwicklungsmodell, das mit der Toleranz für die Verschiedenartigkeit der anderen Gemeindemitglieder beginnt. In dem Maße, wie Erkenntnis hinzutritt, wächst diese Toleranz in Verständnis aus. Wenn Liebe dazukommt, blüht das Verständnis zu Wertschätzung auf. Diese Wertschätzung der Verschiedenartigkeit ist der geistige und gesellschaftliche Gegensatz des Ethnozentrismus, der Überschätzung des eigenen Volkstums. Die Reise vom Ethnozentrismus über die Stationen der Duldung und des Verständnisses bis zum Standort der Wertschätzung bringt unvermeidlich viele Ängste und Zweifel mit sich. Wir sind oft in eine Lage versetzt, in der wir nicht genau wissen, was wir tun sollen, oder wenn wir es wissen, keine Lust haben, es zu tun. Das sind Prüfungen, Voraussetzungen für unsere Verwandlung. 'Abdu'l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláhs, stellt eindeutig fest, daß es keine geistige Entwicklung ohne Prüfungen gibt.

Hier kommen wir zu einem höchst gefährlichen Punkt. Prüfungen können manchmal ein Individuum zerstören. ‘Abdu’l-Bahá erklärt, wenn wir uns von Gott abwenden, um die Lösung zu finden, könne uns die Prüfung in der Tat vernichten. Wenn wir uns jedoch um der Lösung willen Gott zuwenden, und wenn uns die anderen Gemeindemitglieder liebevoll unterstützen, können wir die Prüfung erfolgreich hinter uns bringen. So bereitet uns die Bahá’í-Gemeinde wegen ihrer Mannigfaltigkeit viele Prüfungen von der Art, wie sie notwendig für unsere geistige Entwicklung sind. Gleichzeitig vermitteln die Führung durch die Bahá’í-Institutionen und die Verpflichtung der Gemeindemitglieder, einander in der Form anzunehmen, zu der man sich entwickeln kann, den Mut dazu, daß man solche Prüfungen in Fahrzeuge für den geistigen Fortschritt, für die Erschließung menschlicher Anlagen verwandelt.

Kurz gesagt ist dies die geistige Bedeutung jeden Mißgeschicks. Bahá’u’lláh spricht: „Meine Prüfung ist Meine Vorsehung; äußerlich ist sie Feuer und Züchtigung, doch in Wirklichkeit ist sie lauter Licht und Gnade. Eile ihr entgegen, damit du ein ewiges Licht und ein unsterblicher Geist werdest. Dies ist Mein Gebot an dich. So beachte es" (Verborgene Worte, arab. 51).

So ist für den Bahá’í Glückseligkeit nicht ein Leben in Freiheit von Angst oder Spannung; vielmehr wäre das die Bahá’í-Definition für Langeweile. Glück bedeutet für einen Bahá’í, Prüfungen unterworfen zu sein und zu erkennen, wie man Mut faßt, sie so zu bestehen, daß die eigenen Erkenntnis- und Liebesfähigkeiten im Dienst an der Menschheit weiterentwickelt werden. Das Gemeinschaftsleben bringt Prüfungen mit sich, die zu Gelegenheiten werden, Erfahrung mit der Übersetzung abstrakter Grundsätze in konkrete Wirklichkeit zu sammeln, und dies gibt dem Glauben die Grundlage bewußter Erkenntnis. Diese ständig erweiterte, bewußte Erkenntnis der Wege, auf denen die Grundsätze des Glaubens in wirklichen Lebenslagen anwendbar sind, festigt die Errungenschaften der geistigen Entwicklung und schafft die Grundlage für unaufhörliches Wachstum.

EIN STEIN IM WEG: DAS VORURTEIL

Die Vereinigung aller Völker dieser Erde ist unmöglich, wenn die einzelnen Menschen nicht in sich selbst zu einer Einheit geformt werden. Bahá’u’lláh äußerte einmal. Er könne keinen Menschen finden, der innerlich und äußerlich geeint sei. Wenn unsere Erkenntnis- und unsere Liebesfähigkeiten miteinander im Streit liegen, können wir weder innerlich noch äußerlich geeint sein. Die Folge ist, daß unsere Worte und unsere Taten nicht übereinstimmen.

Widerstreit zwischen diesen Fähigkeiten kommt äußerlich auch auf einer anderen Ebene zum Ausdruck. Die Wissenschaft kann zum Beispiel als ein Ausdruck der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die Religion als Ausdruck seiner Liebesfähigkeit betrachtet werden. Bahá’u’lláh lehrte, Wissenschaft und Religion müßten Hand in Hand arbeiten, sonst wirke sich der Widerstreit zerstörerisch aus. Heute sehen wir, wie die Kenntnis der Kernenergie ohne eine Kompensation durch Liebe eine ständige Bedrohung unserer Lebenschancen erzeugt.

In seiner Grundbedeutung bezeichnet das Wort Vorurteil Konflikte in der Art und Weise, wie unsere beiden Grundfähigkeiten zum Ausdruck kommen. Ein Vorurteil ist der Glaube (eine Art von Erkennen) an etwas, das nicht wahr ist, verbunden mit einer gefühlsmäßigen Bestätigung (einer Art von Liebe). Mit anderen Worten, ein Vorurteil ist das gefühlsmäßige Hingezogen- oder Ausgeliefertsein an Unwahrheiten oder Irrtum. Handlungen, die auf dieser Haltung beruhen, sind fast immer schädlich, sowohl für die Person, die das Opfer der Handlung ist, als auch für diejenige, die sie ausführt.

Im persönlichen Bereich stellt das Vorurteil eine endgültige Sperre gegen den Ausdruck menschlicher Anlagen dar, weil die Liebesfähigkeit benutzt wird, um die Erkenntnisfähigkeit zu behindern. Grundsätzlich können fast alle Neurosen und Psychosen in der Form dieses Konflikttypus verstanden werden. Ziel der Therapie muß deshalb immer sein, die Sperre zu beseitigen und den Weg zur Selbstverwirklichung freizumachen, indem man die Liebesfähigkeit des betreffenden Menschen in die Lage versetzt, seine Erkenntniskräfte zu unterstützen, und umgekehrt.

Auf der gesellschaftlichen Ebene schlägt tätliches Vorurteil in massive Ungerechtigkeit durch, die von Diskriminierungen und Rassentrennungen bis zu offener Gewalt und zu organisierter Feindseligkeit in Form von Kriegen reichen. Auch dies stellt eine endgültige Sperre gegen den Ausdruck gesellschaftlicher Möglichkeiten dar.

Jede Schranke gegen die Vereinigung der Menschheit wird durch ein Vorurteil aufrechterhalten — durch weitverbreitetes, kulturbedingtes, gefühlsbetontes Ausgeliefertsein an Unwahrheiten. Aus diesem Grund sehen die Bahá’í den Prozeß der Vereinigung als gleichbedeutend mit der fortschreitenden Ausrottung von Vorurteilen an. Bevor die Schranken gegen die Vereinigung niedergerissen werden können, müssen die Vorurteile, die sie stützen, abgebrochen werden.

Warum lassen sich Vorurteile so schwer ausrotten? Ein Grund ist der, daß die Menschen oft gar nicht merken, daß sie ein Vorurteil haben. Im Grunde ist dies die Bedeutung der Bigotterie: nichts über die eigene Unwissenheit zu wissen und dabei kühn und zuversichtlich die Richtigkeit und Wahrheit des eigenen Standpunkts zu behaupten. Bigotte Menschen sind in einer tragischen Position, weil sie es immer vermeiden, sich einer Lebenslage auszusetzen, die sie mit der Tatsache konfrontieren könnte, daß sie möglicherweise ein Vorurteil haben. Wie kann ein Mensch jemals wissen, ob er einem Irrtum in Form eines Vorurteils verfallen ist oder nicht, wenn er sich nie der Erfahrung aussetzt, die dies an den Tag bringt? Oder, konkret und persönlich ausgedrückt: Wie könnten Sie erkennen, daß Sie ein Vorurteil haben gegen jemanden, der eine andere Sprache spricht oder eine andere Hautfarbe besitzt, wenn Sie nie die Gelegenheit hätten, mit solch einem Menschen zusammenzusein — eine Erfahrung, die Ihren Irrtum deutlich machen würde?

Genau das ist der Grund, warum die Bahá’í-Gemeinschaft so wichtig für die fortschreitende Ausrottung von Vorurteilen ist. Auf Schritt und Tritt bietet sie jedermann Gelegenheit zu Erfahrungen, die ihm vor Augen führen, wo seine Vorurteile liegen. Der Kampf um die Welteinheit findet dementsprechend weit mehr innerhalb als außerhalb der Bahá’í-Gemeinschaft statt. Außerhalb der Gemeinde können sich die Leute gegen Erlebnisse, die ihnen ihre eigenen Vorurteile deutlich machen, abschirmen; sie können damit fortfahren, sich nur solche Erlebnisse zu eigen zu machen, die ihre Wahrnehmungen verzerrt sein lassen und ihr Ausgeliefertsein an Unwahrheiten bestärken.

Ein Vorurteil in sich selbst zu entdecken, ist für den Bahá’í immer eine Prüfung. Sobald er es erkannt hat, weiß er, daß er darum ringen muß, es zu beseitigen — nicht nur, weil es ihn ungerecht gegen andere Menschen werden ließe, wenn er es nicht überwände, sondern auch, weil seine eigene geistige Entwicklung unweigerlich von der Beseitigung seiner Vorurteile abhängt.

Was geschieht einem Menschen mit blockierten Anlagen — einem Menschen, der aus irgendwelchen Gründen den Durchbruch zu seiner Selbstverwirklichung nicht gefunden hat? Wenn er passiv oder in sich gekehrt ist, wird er in eine Phantasiewelt zu entkommen suchen; er wird sich in die Welt der Rauschgifte und des Alkohols verkriechen und vielleicht am Ende so handlungsunfähig sein, daß er in eine Anstalt verbracht werden muß. Ist es ein nach außen gekehrter Tatmensch, wird er feindselig und angriffslustig; vielleicht muß er am Ende eingesperrt werden, weil er Verbrechen begangen hat. Der springende Punkt ist, daß ein Mensch auf dem Weg zur Selbstverwirklichung, dessen Liebes- und Erkenntnisfähigkeiten ständig fortschreiten, weder vor der Verantwortung in eine Traumwelt entfliehen will noch das Bedürfnis hat, Schlachten zu schlagen, andere zu verwunden und zu töten. Unter dem Eindruck des Erlebnisses, daß sich ihre menschlichen Fähigkeiten erschließen, ist es den Menschen unmöglich, sich in irgendeine Art von Kriegsführung einzulassen. Es bleibt keinerlei Motiv für feindselige Handlungen übrig. Aus diesem Grund beansprucht Bahá’u’lláh, daß Sein Glaube und die Bahá’í-Gemeinde die Werkzeuge seien, durch die der Weltfriede schließlich fest begründet werde.

DAS EBENBILD GOTTES UND SEIN REICH AUF ERDEN

Das Unbekannte, das die unausgeprägten Anlagen in uns darstellen, wird seit alters als das Ebenbild Gottes bezeichnet. Durchbruch zur Selbstverwirklichung bedeutet, mit diesem Unbekannten derart in Beziehung zu treten, daß es immer mehr zum Ausdruck kommt. Dabei ist immer notwendig, ein Ziel für die Energie der Angst, die aus der Begegnung mit dem Unbekannten entsteht, zu finden. Dieser Gesamtprozeß hat sein gesellschaftliches Gegenstück. Was das Ebenbild Gottes für den einzelnen bedeutet, ist das Reich Gottes auf Erden für die menschliche Gesellschaft. Dieses Reich hat zum Inhalt, was die Gesellschaft ihrer Anlage nach werden kann, genauso wie das Ebenbild Gottes zum Inhalt hat, was aus dem einzelnen Menschen werden kann. Wenn sich die Verwandlung von Einzelmenschen durch die Erschließung menschlicher Anlagen auf breiter Grundlage vollzieht, wenn die verborgenen Liebes- und Erkenntnisfähigkeiten auf gesellschaftlicher Ebene organisiert werden und als fortschreitende Ausrottung von Vorurteilen zum Ausdruck kommen, rücken wir der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden näher.

Bahá’u’lláhs Offenbarung befaßte sich nicht ausschließlich mit der Verwandlung des einzelnen in einer Art luftleerem Raum; dies wäre außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Er hat vielmehr zugleich den Bauplan für eine neue Weltordnung entworfen. Das Bauvorhaben selbst wird von Bahá’í-Institutionen in solcher Weise gelenkt und vorangetrieben, daß es der Gesellschaft möglich wird, den Durchbruch zu ihrer Selbstverwirklichung, zum Reich Gottes auf Erden, zu erzielen. Auch die Antwort auf die Ängste und Prüfungen des einzelnen hat ihre gesellschaftliche Entsprechung. Gesellschaftliche Einrichtungen unterliegen ebenfalls Prüfungen; ihre Entwicklung hängt davon ab, ob sie den schöpferischen Schritt ins Unbekannte vollziehen und neue Formen der Gesetzgebung auf neuen Rechtsvorstellungen aufbauen können.

Für die Bahá’í ist das Reich Gottes auf Erden eine Wirklichkeit, die letzten Endes erreicht werden kann — nicht dadurch, daß wir untätig warten, bis sie uns plötzlich durch irgendein Wunder geschenkt wird; sondern durch hingebungsvolle Bemühungen, über lange Zeiträume hinweg, das zu werden, was wir angesichts vieler Prüfungen und Schicksalsschläge werden können. Wer sich diesen hingebungsvollen Bemühungen unterzieht, wird erleben, daß er eine aktive Rolle im größten aller Dramen spielt: in der bewußten Übernahme der Verantwortung, erkennende und liebende Diener der Menschheit zur Verherrlichung Gottes zu werden.

Wenn so immer mehr Menschen im Bahá’í-Glauben den Durchbruch zu ihrer Selbstverwirklichung finden und das Ebenbild Gottes in ihrem Leben widerstrahlen, ist auch die menschliche Gesellschaft auf dem Vormarsch zu ihrem wahren Selbst, dem Reich Gottes auf Erden.

„Wenn die Wanderer nach dem «Ersehnten' streben, so erstreckt sich diese Stufe auf das Ich — jenes, das das ,Ich Gottes ist, wie es mit Gesetzen in Ihm steht'.

In diesem Zustand wird das Ich geliebt und nicht verworfen. Es ist hocherfreulich und muß nicht gemieden werden. Obschon diese Stufe am Anfang eine Ebene des Konfliktes ist, besteht doch ihr Ende im Erreichen des Thrones der Herrlichkeit . . . Dies _st die Stufe des Ichs, das Gott wohlgefällig ist. Das besagt der Vers:

,O Seele, die du zur Ruhe gehst — kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden und ihm wohlgefällig . . . Werde einer Meiner Diener und tritt ein in Mein Paradies'." ¹)

„O Meine Diener! Wenn ihr begreifen könntet, mit welchen Wundern Meiner Freigebigkeit und Güte Ich eure Seelen betrauen will, so würdet ihr euch in Wahrheit von jeglicher Bindung an alles Erschaffene lösen und die wahre Erkenntnis eures eigenen Selbstes erlangen — eine Erkenntnis, die die gleiche ist wie das Begreifen Meines Wesens. Ihr würdet euch von allem außer Mir unabhängig finden und mit eurem inneren und äußeren Auge, so deutlich wie die Offenbarung Meines strahlenden Namens, die in euch wogenden Meere meiner Güte und Freigebigkeit wahrnehmen" ²).


¹) Bahá’u’lláh, „Sieben Täler – Vier Täler", Frankfurt 1971, S. 63.
²) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs", CLIII.

Durchbruch zur Selbstverwirklichung